hallo nachbar!

In unserem neuen Heft, „Alltagsgeschichten“, berichten Ehrenamtliche und Nachbarn*Innen gemeinsam von ihren Erlebnissen und Erfahrungen, die sie durch und mit „hallo nachbar!“ gesammelt haben. Alle zwei Wochen möchten wir nun einzelne Geschichten vorstellen, sodass alle einen besseren Einblick in das Leben unserer Nachbarn*Innen und die Arbeit unserer Ehrenamtlichen bekommen können.

Alle, die Interesse an diesen Geschichten haben, können die „Alltagsgeschichten“ ganz einfach kostenlos bei uns bestellen! Einfach telefonisch (0211 15 30 60) oder per Mail (hallo-nachbar@vision-teilen.org) bei uns melden und ein eigenes, gedrucktes Heft per Post oder zum Abholen im Büro (nach terminlicher Absprache), erhalten.

Die heutige Geschichte von unserem Nachbarn „Hubert“ ist mit einem traurigen Anlass verbunden: Hubert verstarb im Juni 2021 alleine in einem Krankenhaus.              
Leider konnten ihn seine beiden Ehrenamtlichen in den vergangenen Monaten seines Lebens, aufgrund der Corona-Situation und auch aus zum Teil recht schwierigen Datenschutzgründen, nicht mehr besuchen, um Hubert in dieser letzten Phase seines Lebens zu begleiten.

Wir veröffentlichen seine Geschichte als Nachruf im Rahmen seiner Beerdigung, die in dieser Woche stattfinden wird.

„Ich war auf vielen Bühnen Deutschlands zu Hause. Ich habe es geschafft. Nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, aber vom Bauersjungen zum Schauspieler. Ich habe mein Leben gelebt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Doch ich möchte meine Geschichte von vorne erzählen. Ich komme aus Oberschlesien und wuchs im polnischen Post auf. Als ich zehn Jahre alt war, nahm mich mein Vater mit ins Theater. Das war er, einer dieser lebensverändernden Momente. Mich beeindruckte ein Schauspieler dermaßen, dass ich an diesem Tag entschloss, selbst eines Tages auf der Bühne zu stehen.

Mit 15 Jahren stand ich plötzlich allein da.

Als Jugendlicher war ich im Segelfliegerlager der Hitlerjugend und machte dort die A-Prüfung. Dann begann der Krieg und brachte mein Leben durcheinander. Als der Russe kam, mussten wir flüchten. Mein Vater geriet in Gefangenschaft und kam nach Griechenland. Meine Mutter verschleppten sie in ein anderes Lager. Mit 15 Jahren stand ich plötzlich allein da. Ich arbeitete für zehn Mark im Monat bei einem Bauern von morgens 5 Uhr bis abends 22 Uhr. Ich lernte Holzschuhe zu schnitzen, flocht Körbe und mit der Oma spann ich Wolle. Ich erinnere mich noch an das Weißbrot mit Rübenkraut.

Tagsüber malochte ich auf dem Bau, danach ging es zur Schauspielschule.

Eines Tages kam ich zum Bau. Dort schuftete ich, um Geld zu verdienen. Mein Ziel, Schauspieler zu werden, vergaß ich nie. Irgendwann meldete ich mich in Düsseldorf-Oberkassel an der Schauspielschule an. Tagsüber malochte ich auf dem Bau, im Anschluss wusch ich mir den Hals, zog ein anderes Hemd an und fuhr nach Oberkassel zur Stimmübung bei Frau Professor B.-W. Manchmal fragte sie mich: „Hubert, Schnäpschen?“. Irgendwann kam ein Intendant zu Frau Professor und ich bekam eine Anstellung am Theater in Münster. Eine tolle Zeit begann. Ich spielte um die 40 Bühnenwerke in meinem Leben in Flensburg, Godesberg, Köln, Bamberg, Hof, Detmold und Bremerhaven. Die Stücke waren gute Sachen, wie von Karl May, William Shakespeare oder Agatha Christie. Ich stand gerne im Rampenlicht. Leute erkannten mich auf der Straße. Mir ging es gut und wir feierten eine Menge. Ich genoss das Leben in vollen Zügen. Mit 61 Jahren zog ich nach Düsseldorf. Nachts am Rhein stehen mit einem Gläschen Alt in der Hand, davon hatte ich geträumt.

Den Walzer konnte ich sogar linksherum tanzen.

30 Jahre später hat der Zahn der Zeit vor allem an meinen Knochen genagt. Ich habe Osteoporose. Meine Hände sind kaputt und vor fünf Jahren kollabierte ich, weil meine Hüfte zusammenbrach. Seit einem halben Jahr kann ich nur noch mit meinem elektrischen Rollstuhl und fremder Hilfe an die frische Luft. Früher machte ich Stepptanz. Den Walzer konnte ich sogar linksherum tanzen. Heute brauche ich eine Stunde, bis ich in die Küche getippelt bin. Ich bin einsam. Manchmal starre ich den ganzen Tag Löcher in die Luft und träume. Ich bin sehr froh, dass seit drei Jahren Ehrenamtliche von „hallo nachbar!“ mit mir nach draußen gehen, Ausflüge machen und gute Gespräche führen. Zudem durfte ich schon drei Feste mit „hallo nachbar!“ feiern. Die sind immer klasse. Bei Frau Schmale bedanke ich mich dafür, dass sie immer präsent ist, wenn ich sie brauche. Das gibt mir ein gutes Gefühl.“

Huberts „Alltagsgeschichte“ liest sich wie eine kleine Novelle. Er führte ein sehr bewegtes und aufregendes Leben unter anderem auf den Theater-Bühnen Deutschlands, bis seine Osteoporose ihn an seine Wohnung und den Rollstuhl band.

Durch die Begleitung von zwei Ehrenamtlichen von „hallo nachbar!“ hatte er wieder Kontakte und vertraute Ansprechpartner. Diese Ehrenämtler unterstützten ihn bis zum Schluss auf außergewöhnliche Weise, die weit über das eigentliche Ehrenamt hinausging.

Hierfür möchten wir uns bei Euch beiden auch auf diesem Wege noch einmal bedanken. Hubert hat die Begleitung und Unterstützung durch Euch viel bedeutet!              
Uns zeigt Euer Engagement einmal mehr, wie wertvoll Euer Einbringen und Einsetzen in der eigenen Freizeit für andere Menschen ist, die sonst niemanden mehr haben.

Wie jede unserer „Alltagsgeschichten“ sticht diese auf ihre eigene Art und Weise heraus, nicht nur vor dem Hintergrund seines sehr bedauerlichen, einsamen Todes.

Jede Geschichte ist anders, jedes Leben wird individuell gelebt.

Deswegen ist beim Lesen unserer Geschichten spürbar, wie vielseitig die Arbeit unserer Ehrenamtlichen ist. Auch der Umgang mit unseren Nachbar*Innen richtet sich nach den Persönlichkeiten der Menschen, die begleitet werden und begleiten.

Wer mehr über diese verschiedenen Leben lesen möchte, meldet sich einfach telefonisch (0211 15 30 60) oder per Mail (hallo-nachbar@vision-teilen.org) bei uns, um eine eigene Ausgabe von „Alltagsgeschichten“ zu erhalten!