hallo nachbar!

 

Erschienen in der April-Ausgabe 2019 der fiftyfifty-Straßenzeitung

Ist Nachbarschaft selbstverständlich?

Diese Frage stelle ich mir oft. Denn eigentlich sind wir überall im Leben Nachbarn. Denn wie heißt es richtig: „Keiner ist eine Insel“. Wir sind in soziale Kontexte hineingeboren und oft genug unser Leben lang in ihnen eingebunden. - Bruder Peter Amendt - Leiter von vision:teilen e.V.:

 

Wir laufen uns immer wieder über den Weg und oft genug grüßen wir uns flüchtig - wenn wir nicht im Einzelfall aus welchen Gründen auch immer den Gruß ausschlagen. Aber das, was selbstverständlich klingt, ist es in Wirklichkeit noch lange nicht. Denn die Teilhabe am sozialen Netz – etwa als Einzahler von Beiträgen und Nutznießer-sein von Diensten - ist noch lange nicht Nachbarschaft, wie wir sie uns vorstellen. Auch das Wohnen Wand an Wand ist noch kein Zeichen einer wirklichen oder gar „guten Nachbarschaft“, wie wir den Begriff gern gebrauchen. 

 

 

Letzteres meint sehr viel mehr – es meint eine aktive, bewusst bejahte und gepflegte Beziehung, die zwischenmenschliche Bande miteinander verknüpft. Man hilft einander in den kleinen Dingen des Alltags, wenn der andere ein Werkzeug braucht, das ich habe, um die Hecke zu schneiden – oder man tut es gemeinsam -, man geht für den anderen mit einkaufen, wenn er krank ist, und man nimmt die Post an, wenn er für mehrere Tage verreist ist. All das nennen wir „gute Nachbarschaft“. Sie funktioniert, wenn „die Chemie stimmt“ und wir uns als Nachbarn begegnen und miteinander sprechen, vielleicht sogar einander einmal einladen oder gar ein Nachbarschaftsfest mit anderen organisieren. All das ist alles andere als selbstverständlich. Es muss von allen Seiten gewollt sein und man braucht dafür auch Zeit füreinander und miteinander. Wo das fehlt, verkümmert ein wichtiges soziales Netz, das uns hilft, den Alltag zu tragen und zu gestalten.

 

 

Die Frage also ist: Was passiert, wenn dieses Netz fehlt? Und: Was trägt und hält uns, wenn wir lebens- oder Umstände-bedingt auch aus anderen Netzen herausfallen? Gibt es dann Ersatz – und durch wen? 

 

 

Wie gestalte ich Nachbarschaftshilfe?

„Wenn Du mich nicht fragst, dann weiß ich es, und wenn Du mich fragst, dann weiß ich es nicht“, soll der große Augustinus auf die Frage, was Zeit ist, geantwortet haben. Daran erinnere ich mich bei der Frage, wie wir Nachbarschaft und Nachbarschaftshilfe gestalten. Denn es klingt simpel, einem jeden von zuhause aus geläufig, und doch, wenn wir uns fragen „Was ist aktiv gestaltete Nachbarschaftshilfe?“, dann spüren wir: Die Antwort ist gar nicht immer so einfach.

Gewiss, es fallen uns Arbeitsfelder ein, die Nachbarn füreinander besorgen können – von der Gestaltung eines gemeinsamen Festes über die Mitsorge für das Nachbarhaus, wenn die Nachbarn verreist sind, bis hin zu Einkaufhilfen und gegenseitigen Aushilfen mit Werkzeugen und gemeinsamen Reparaturarbeiten am Haus. Zumeist sind es kleine, oft vom Zufall gesteuerte Gelegenheiten, die Nachbarn mit dem Ziel der Hilfe zusammenführen.

Aber diese zufällig sich einstellenden kleinen Hilfsbitten ersetzen nicht das breite Bedürfnis nach einer Nachbarschaft und Nachbarschaftshilfe, die einen auch in schweren Zeiten mit trägt und bei der wir uns aufeinander verlassen können. Dieses Bedürfnis ist sicherlich auch heute noch gegeben, aber es braucht angesichts der vielfach gegebenen Anonymität in der Stadt zusätzliche Wege, um zueinander zu finden. Denn oft wissen wir noch nicht einmal, wer neben uns wohnt und wie es dem geht, der Wand an Wand neben uns wohnt. Hier hilft es zumeist nicht darauf zu warten, bis jemand zu uns kommt und um Hilfe bittet. Es gilt, ihn aufzusuchen, ja oft zu suchen, weil der, der vereinsamt ist, es von selbst kaum mehr schafft, die eigenen Mauern zu durchbrechen. Von daher ist die aufsuchende Hilfe das wichtigste Prinzip der Aktion „hallo nachbar“ im Verein vision:teilen e.V.

Und dann geht das so...

Durch Flyer bei Ärzten und Apotheken oder auch in Bäckereien und den Straßenbahnen, die jeder benutzt, auch wer über den notdürftigen Einkauf und Arztbesuch hinaus So gut wie nicht mehr vor die Tür kommt, machen wir auf uns aufmerksam. Ganz wichtig ist auch die Mund-Zu-Mund-Propaganda, so dass möglichst viele mitbekommen: „Dahin kann ich mich wenden, wenn ich Hilfe brauche“, und das ohne zu bezahlen und ohne mich ausweisen zu müssen. Aber auch andere, die schon lange ihre Nachbarin oder Nachbarn nicht mehr gesehen haben und sich darum sorgen, können sich an uns wenden. Unsere beiden Sozialarbeiterinnen Marieke und Sonja kümmern sich dann um den Erstbesuch, um sich ein Bild zu machen, was jetzt zu tun ist, oder auch so mancher findet den Weg zu uns, wenn er Beratung und Hilfe in seiner akuten Not braucht. 

Aber auch mobile Pflegedienste wenden sich an uns, weil sie nicht die Zeit haben, sich um mehr als eine feste, bezahlte Tätigkeit bei ihren „Schützlingen“ zu tun, während es mindestens so wichtig ist, einfach für sie da zu sein und ihnen zuzuhören. In vielen Fällen ist nach dem ersten Kennenlernen das Ziel, den Weg zurück in die sozialen Netze zu ebnen, sei es durch weiterleiten an Facheinrichtungen, die besser helfen können als wir, sei es durch die Begleitung durch einen oder eine Ehrenamtliche(n) in den alltäglichen Dingen des Lebens – vom Einkaufen mit einer Blinden über das Zuhören bei einer Lebensgeschichte, die schonlange einen Menschen bedrückt, bis hin zur Erledigung von Bürogängen und Ämterbesuchen.

Ganz wichtig ist auch das Angebot des gemeinsamen Austausches bei Kaffee und Kuchen einmal in der Woche, zu dem ebenso die „Nachbarn“ mit ihren Nöten wie auch die Ehrenamtlichen kommen, wer immer die Zeit hat. Denn das Gefühl, Gemeinschaft zu haben, ist ganz wichtig, um die Vereinsamung zu Überwinden. Inzwischen spüren wir, wie wichtig gerade diese Form der „Nachbarschaft“ auch dann ist, wenn sie größere Strecken in einer Stadt wie Düsseldorf überbrückt. Wesentlich ist der menschliche Bezug, das Vertrauen, das sich zwischen den Bedürftigen „Nachbarn“ und den Ehrenamtlichen aufbaut. Erst dieses Vertrauen erlaubt, nach und nach die Barrieren zu überwinden, die zuweilen jahrelange Vereinsamung gegenüber der Gesellschaft hat wachsenlassen. Und dann kommt es nicht selten dazu, dass aus dem ehrenamtlichen Engagement gegenüber der „eigenen“ Nachbarin oder dem „eigenen“ Nachbarn ein Freundschaftsverhältnis wird, Das beide nicht mehr missen wollen und wo einer auf den anderen wartet, bis man sich dankbar wiedersieht…

Interview mit Marieke Schmale – Sozialarbeiterin und Leitung von „hallo nachbar!“

vision:teilen: Seit der Gründung von „hallo nachbar!“ im Jahre 2013 steigen die Anfragen hilfesuchender Nachbarn stetig an. Manche Menschen melden sich selbst, viele werden durch andere Stellen an uns vermittelt. Eine immer größere Rolle spielt hierbei die Seniorenhilfe der Stadt Düsseldorf. Wie ist das zu verstehen? Ein Zeichen dafür, dass viele öffentliche Träger keine Kapazitäten mehr haben oder das Sozialsystem für niederschwellige, aber notwendige Hilfe, keine Mittel bereithält?

Marieke Schmale: Ich glaube die ganze Angelegenheit hat zwei Seiten. Zum einen haben immer mehr Personen keine privaten Netz-werke mehr vor Ort. Sei es wegen eines flexiblen Lebens mit mehreren Umzügen, sei es ein ausgefülltes Berufsleben, eigene Familiengründung oder wegen eines hohen Alters und des Wegfalls des sozialen Netztes aufgrund von Todesfällen. Durch den gesellschaftlichen Wandel in den Lebensstilen sind in schwierigen Lebenssituationen Versorgungslücken entstanden, die bislang vom öffentlichen Sozialsystem (noch) nicht aufgefangen werden. Ich bin aber auch der Meinung, dass der Staat nicht jeden sozialen Mangel auffangen kann, sondern wir alle als Bürgerinnen gefragt sind, uns neue funktionierende Versorgungssysteme zu schaffen. Beispielsweise Nachbarschaftliche Hilfe statt der Fokussierung auf nachbarschaftliche Hilfe. Trotzdem hat der Staat natürlich die Verantwortung diese Entwicklung von neuen gesellschaftlichen Strukturen zu beachten und fördern.

vision:teilen: Zu Beginn von „hallo nachbar!“ ging es konkret um das Auffinden und Unter-stützen von hilfsbedürftigen und vereinsamten Menschen, meistens Senioren, in der Anonymität der Großstadt. Mittlerweile sind es auch jüngere Menschen, die Anschluss oder Hilfe suchen. Aber nicht nur das Alter hat sich verändert. Die Gründe, warum Nachbarn bei uns Hilfe suchen, werden immer vielfältiger.

Marieke Schmale: Mit der Zeit und der wach-senden Aufmerksamkeit für unsere Initiative kommen vermehrt blinde Menschen zu uns. Aber auch Menschen mit Sozialphobien – Menschen , die gerne den Kontakt zu Mitmenschen hätten, aber von Situationen im öffentlichen Leben wie z.B. in Menschenmengen Ängste haben. Besonders tragisch sind aber auch die Schicksale der vielen Menschen, die nicht allein aus ihren Wohnungen kommen aufgrund von körperlichen Beschwerden und dazu den unpassenden Wohnungssituationen. Es gibt z.B. eine junge Frau. Sie ist blind und braucht Hilfe bei Einkäufen und Behördenbriefen. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte sie niemanden mehr der sie unterstützen konnte. Weitere Hilfe von der Familie und von Freunden war nicht möglich. In diesen zwei Punkten ist ein selbstständiges Leben ohne Hilfe von außen – trotz vieler guter Hilfsmittel – kaum möglich.

Ein weiteres Beispiel ist ein älterer Herr der aufgrund seiner Arthrose und zahlreichen Operationen nur noch am Rollator gehen kann und daher seine Wohnung im dritten Stock – ohne Aufzug - nicht mehr verlassen kann. Hier versuchen wir zuerst Gesellschaft zu leisten um das Gefühl der Einsamkeit und des verlassen-seins aufzubrechen. Im nächsten Schritt nehmen wir den Kontakt zu Behörden auf, wie z.B. der Seniorenhilfe oder dem Wohnungsamt um diese Situation nachhaltig zu ändern. Den viele Menschen haben durchaus Ansprüche auf soziale Hilfen welche durch die Einstufung in Pflege- oder Behinderungsgrade zugänglich werden. Oft schaffen die Menschen diesen Schritt der Kontaktaufnahme mit den Behörden nicht alleine und brachen jemanden, der sie „an die Hand“ nimmt. Hier können meine Kollegin und ich, oder unsere vielen ehrenamtlichen Unterstützer viel bewegen.

vision:teilen: Aufgrund der vielen neuen Anfragen sucht die Initiative immer neue ehren-amtliche Unterstützer die sich für Nachbarn einsetzen wollen. Wenn man Interesse an einen Ehrenamt bei "hallo nachbar!" hat, wie sehen die nächsten Schritte aus?

Marieke Schmale: Bei „hallo nachbar!“ ist es möglich, recht flexibel und individuell aktiv zu werden. In einem Erstgespräch lernen wir uns im Grunde erst einmal kennen, so dass ich mir ein gutes Bild der Person machen kann. Über einen kleinen Fragebogen fragen wir relevante Themen ab. Wieviel Zeit möchten Sie pro Woche/Monat schenken? Wo wohnen Sie, damit man einen Nachbarn in direkter Nähe finden kann? Welche Interessen oder Hobbys haben Sie persönlich? Über diese und weitere Fragen erfahren wir viel über die Personen und können diese dann ganz gezielt mit Nachbarn in Verbindung bringen. Da der Erstkontakt so einfach wie möglich gestaltet werden soll, bin ich immer persönlich bei ersten Treffen dabei um zu sehen ob es auch Zwischenmenschlich zwischen Nachbarn und Ehrenamtlichen passt. Dies ist wichtig, da gerade lange isolierte Menschen erst wieder vertrauen lernen müssen. Dieses System hat sich sehr bewährt und es ist besonders toll zu sehen, dass viele junge Ehrenamtliche hinzukommen, die Ihre Zeit neben 
Studium oder Job einem Menschen Zeit schenken wollen.

vision:teilen: Werden aktuell Ehrenamtliche gesucht?

Marieke Schmale: Mittlerweile haben wir verschiedene Teams in ganz Düsseldorf gebildet. Aufgeteilt in Nord, Mitte-West und Süd-Ost versuchen wir ganz Düsseldorf abzudecken – zur Zeit sind über 60 Menschen im ehrenamtlichen Einsatz für Bedürftige. Dennoch fehlen uns in bestimmten Stadteilen zur Zeit Unterstützer. In einer nachfolgenden Karte haben eine kleine Übersicht erstellt. Wir würden uns sehr freuen, hier neue Unterstützer zu finden.

Wie SIE helfen können!

Wir sind unseren Ehrenamtlichen dankbar, dass sie ihr Engagement ausüben ohne zu fragen, wer es ihnen bezahlt. Das ist gut so. Aber ohne die Bestreitung von Kosten lässt sich dennoch „hallo nachbar!“ nicht verwirklichen, sei es im Blick auf beide Sozialarbeiterinnen, die wir mit vollem Einsatz nötig haben, um die Koordination, die Ersteinsätze, die Begleitung der Ehrenamtlichen und so mancher Nachbarn ebenfalls mit Nöten, die Ehrenamtliche nicht lösen können, gewährleisten zu können. Aber auch Raummiete, die Nebenkosten der Räumlichkeiten, die Besorgung finanzieller Überbrückungen usw. erfordern finanzielle Hilfen, für die wir auf Spenden und Unterstützungen vieler Einzelspender angewiesen sind.

Bitte entscheiden Sie selbst: Möchten wir, dass es immer wieder gerade junge Menschen gibt, die sich für andere im Rahmen von „hallo nachbar!“ einsetzen? Wenn ja, dann dürfen wir sie nicht im Regen stehen lassen. Denn ohne die nötige Unterstützung geht es nicht…

Bitte unterstützen Sie die Arbeit von „hallo nachbar!“ für unsere Mitmenschen und Nachbarn in Düsseldorf. Aktuell betreuen wir 80 Nachbarn und erhalten pro Monat 15 neue Anfragen. Für unsere Arbeit benötigen wir pro Nachbar/Woche ca. 20,- Euro um unser Angebot mit allen Kosten du Nebenkosten abdecken zu können. Bitte unterstützen Sie uns!

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Redaktion // Br. Peter Amendt und Daniel Stumpe